Shahryar Nashat
Streams of Spleen
17.03–18.08.2024
Kuratiert von
Francesca Benini
Ein Projekt in Zusammenarbeit mit
Istituto Svizzero
Roma | Milano | Palermo
Studio Shahryar Nashat
Cooper Jacoby
Simon Brossard
Paul Gonzalez
Für seine bislang grösste Ausstellung in der Schweiz hat Nashat ein Projekt entwickelt, das in die Architektur des Ausstellungsraums im Untergeschoss des MASI eingreift und einen Parcours schafft, in den sich die Werke harmonisch einfügen. Die Interventionen des Künstlers, etwa die vollständige Abdeckung des Bodens oder der veränderte Farbton der Beleuchtung, begünstigen die räumliche Wahrnehmung und schaffen, zusammen mit dem im Raum schwebenden Klang, eine einheitliche Umgebung, die die Empfindungen der Besucher:innen stimuliert. In den ausgestellten Werken – fast alles neue Arbeiten – werden Abfälle, organische Flüssigkeiten und Rückstände gleichbehandelt wie künstlerische und industrielle Materialien, etwa Kunstharz, Ölfarbe und Marmor, wodurch eine beunruhigende ästhetische Nähe entsteht. Die Körper, welche die Ausstellung bevölkern, können Anspielung auf Technologien sein, indem sie nur als Pixel oder digitale Bilder existieren, oder sie können taktil und physisch sein und somit an unser eigenes Fleisch, unsere Leiblichkeit, erinnern.
Die hellrosafarbenen, speziell nach seinen Angaben gefertigten modularen Fliesen, mit denen der Künstler den gesamten Boden des Ausstellungsraums sowie die Aussenwände der Struktur im Zentrum verkleidet hat, verändern die Wahrnehmung aller Gegenstände darin. Der architektonische Eingriff «bequeert» die Neutralität des Raumes und hat eine unmittelbare physische Wirkung, die zugleich als Geste der Dekonstruktion von etablierten Normen verstanden werden kann und zum Nachdenken über die Veränderlichkeit und Verschiedenartigkeit der Wahrnehmung anregt.
Shahryar Nashats Kunst macht uns empfänglich für eine Begegnung, die nicht nur auf rationalem Verständnis beruht, sondern auch den intuitiven und unbewussten Teil unseres Fühlens umfasst.
Die Wände und Decke im Inneren der zentralen Struktur wirken unfertig und bilden einen starken Kontrast zum Raum ausserhalb, wodurch der Eindruck entsteht, man befinde sich in einem Bereich, der nicht für die Augen des Publikums bestimmt ist. An den Wänden hängen sechs Skulpturen aus der Serie Bone Out, an denen der Künstler seit 2019 arbeitet. Ausgehend von synthetischen Materialien und Ölfarbe schafft Shahryar Nashat Werke, die wie Fleischstücke unbekannter Herkunft wirken und an die Verfahren der Lebensmittelindustrie erinnern, aber auch an traditionelle Darstellungen von rohem Fleisch in der Kunstgeschichte anknüpfen. Ob virtuos gemalte Kadaver in Stillleben des 17. Jahrhunderts oder Imitationen, Fotografien bis zur Verwendung von echte Organe in der Gegenwart Kunst– Fleisch fasziniert, weckt Verlangen und erregt zugleich Ekel und führt unweigerlich die Stofflichkeit unseres Körpers vor Augen. Shahryar Nashat beobachtet ihn und reflektiert über seine räumlichen und zeitlichen Grenzen sowie die Möglichkeiten, seine Existenz zu verlängern, und sei es nur als künstlerische Darstellung. Er interessiert sich nicht nur für die Vitalität des Körpers, sondern auch für seine Verderblichkeit, worauf die Interventionen an den Wänden verweisen, in denen er Silikon mit biologischen Überresten vermischt hat.
In den auf dem Boden platzierten Skulpturen aus Glasfaser ist der Bezug zum Körper subtiler. Boyfriend_14.JPEG, Boyfriend_15.JPEG und Boyfriend_16.JPEG werden zu physischen Präsenzen, in denen der Künstler die Fleischlichkeit mit dem amerikanischen Minimalismus zu verschmelzen scheint, indem er in klare geometrische Formen Unregelmässigkeiten einfügt, die auf Muskelgewebe oder Skelettteile hinzuweisen scheinen. Die Verstümmelungen machen die Verletzlichkeit deutlich, doch gleichzeitig vermitteln sie den Eindruck, man stehe einem lebenden Objekt gegenüber, zu dem man in Beziehung treten kann. Auch diese Skulpturen gehören zu einer Werkreihe, an der Nashat seit mehreren Jahren arbeitet; die ausgestellten Arbeiten sind die jüngsten der Serie und stellen die knochigste Version dar, die der Künstler je geschaffen hat. Die Titel hingegen beziehen sich auf das ursprüngliche Format der Werke, die immer als einfache digitale Bilder entstehen und anschliessend vom Künstler am Computer modelliert werden.
Beim Verlassen der Struktur verstärken der Lichtwechsel und die veränderte Stimmung das Gefühl von Passage. An den Aussenwänden ist ein auf einem Relief angebrachtes Bild mit einer Acrylgelatine beschichtet, was der Darstellung eine organische Prägung verleiht, die anziehend und zugleich abstossend wirkt. In Brother_03.JPEG und Brother_08.JPEG wird der Körper – das Fleisch – zum Objekt, das in traditioneller Ausstellungsform präsentiert wird. Auch hier erinnert der Titel an den fotografischen Charakter des Drucks, überlagert sich aber zugleich mit den synästhetischen Empfindungen, die die Sekrete hervorrufen, mit denen er überzogen ist. In diesem Fall verdeutlicht die konkrete, materielle Dimension des Bildes durch Kontrastwirkung, wie im digitalisierten Zeitalter gerade der Körper und das Kunstwerk häufig durch Bildschirme vermittelt werden.
Auch wenn er in seinen Werken gerne mit unkonventionellen Ideen und Materialien experimentiert, ist Shahryar Nashat auch ein aufmerksamer Beobachter der Kunstgeschichte und arbeitet bisweilen mit Techniken und Materialien, die eine jahrhundertealte Tradition haben, wie etwa der Marmor für die Skulptur. In der kollektiven Vorstellung ist der Marmor mit Werken aus allen Zeitaltern verbunden, von der Antike bis zur Gegenwart, und wie kein anderes Material wurde er schon immer zur Darstellung des menschlichen Körpers verwendet. Vor dem Hintergrund dieser Erinnerung wird in Hustler_23.JPEG und Hustler_24.JPEG der Bezug zum Körper durch die Äderung und die orange-rosafarbenen Töne des rosa Portogallo Marmors noch verstärkt; gleichzeitig überlagern sich die digital in 3D modellierten Formen (und vielleicht auch die farbliche Nähe zum Boden und zu den Wänden) mit der Fleischlichkeit des Steins und der klassischen Konnotation des Materials.
Im hinteren Teil des Ausstellungsraums wird auf der Rückseite der zentralen Struktur eine imposante Wand aus Bildschirmen sichtbar, auf denen die Bilder zu den Hintergrundklängen ablaufen, die den ganzen Raum erfüllen. Das Video-Loop Warnings ist das pulsierende Herzstück der Ausstellung und verleiht dem Ausstellungsparcours einen rhythmischen Charakter, noch bevor es optisch erfasst wird. Das Video, das in die Architektur der Struktur im Zentrum des Ausstellungsraums integriert ist, besitzt eine starke physische Präsenz und scheint das lebendige, dynamische Gegenstück zum Innenraum, jenseits der Wand, zu sein, in dem ein Gefühl von Erstarrung und Dekadenz (vielleicht sogar Zersetzung) vorherrscht. Auch wenn die in ihrem natürlichen Lebensraum gefilmten, digital gezeichneten oder mit künstlicher Intelligenz nachgebildeten Wölfe den Eindruck von Kraft und Vitalität vermitteln, bleibt dennoch ein Gefühl des Unbehagens, das noch verstärkt wird durch die Tonspur: ein Keuchen, das sich in eine Symphonie aus Heulen und Stöhnen verwandelt und dann zu elektronischer Musik mit beschleunigten Beats wird. Handelt es sich um eine Warnung? Die Trauer über den Verlust einer Bindung? Es ist nicht klar, doch inzwischen nimmt das Video seinen Zyklus wieder auf.
Shahryar Nashat lädt mit seiner Kunst zu einer tiefgründigeren Wahrnehmung ein: Indem er die materielle Seite des Daseins ausreizt, lässt er umso deutlicher das hervortreten, was körperlos ist, wie das Gefühl der Intimität, das Verlangen, der tierische Instinkt. Der Titel selbst, Streams of Spleen, erzeugt von Anfang an eine Spannung zwischen der englischen Bedeutung des Begriffs Spleen, dem Organ der Milz, und dem Verweis auf die Stimmungen, für die dieses Organ in der Vergangenheit verantwortlich gemacht wurde, wie Melancholie, Unzufriedenheit und Langeweile. In einer Zeit, in der viele unserer Körpererfahrungen durch Technologien gefiltert werden, befasst sich Shahryar Nashats Arbeit mit den Zusammenhängen von physiologischer, körperlicher Verfasstheit und seelischen Zuständen und bietet so neue Perspektiven auf unserer menschlichen Existenz.
Shahryar Nashat ist ein bildender Künstler. Seine Solo-Ausstellungen fanden im Art Institute of Chicago (2023), in der Renaissance Society, University of Chicago (mit Bruce Hainley, 2023), im Museum of Modern Art, New York (2020); Swiss Institute, New York (2019); Kunsthalle Basel (2017); Portikus, Frankfurt (2016); Schinkel Pavillon, Berlin (mit Adam Linder, 2016) statt. Er wird durch Rodeo Gallery, London/Piräus, David Kordansky Gallery, Los Angeles/New York und Gladstone Gallery, New York/Brüssel vertreten.
Ausgestellte Werke
1 Hustler_20.JPEG
2024
Polyethylen-Behälter, Urin
21 × 40 × 25 cm
2 For Left
2024
Stahl, Epoxidharz, Acrylfarbe
Variable Masse
3 For Right
2024
Stahl, Epoxidharz, Acrylfarbe
Variable Masse
4 Bone Out
2024
Synthetisches Polymerharz, Ölfarbe
90 x 30 x 18 cm
5 Bone Out
2024
Synthetisches Polymerharz, Ölfarbe
90 x 30 x 18 cm
6 Bone Out
2024
Synthetisches Polymerharz, Ölfarbe
90 x 30 x 18 cm
7 Boyfriend_15.JPEG
2022
Polyesterharz, Fiberglas, Acrylfarbe
57 x 190 x 123 cm
8 Ohne Titel
2024
Silikon, Staub, Haare, Nägeln
Variable Masse
9 Ohne Titel
2024
Silikon, Staub, Haare, Nägeln
Variable Masse
10 Bone Out
2024
Synthetisches Polymerharz, Ölfarbe
90 x 30 x 18 cm
11 Boyfriend_14.JPEG
2022
Polyesterharz, Fiberglas, Acrylfarbe
57 x 190 x 123 cm
12 Bone Out
2024
Synthetisches Polymerharz, Ölfarbe
90 x 30 x 18 cm
13 Bone Out
2024
Synthetisches Polymerharz, Ölfarbe
90 x 30 x 18 cm
14 Boyfriend_16.JPEG
2022
Polyesterharz, Fiberglas, Acrylfarbe
214 x 116 x 60 cm
15 Brother_03.JPEG
2023
Acrylgel, Tinte auf Papier, Sperrholz
38 x 32.5 x 4.3 cm
16 Hustler_24.JPEG
2024
Marmor
61 x 79 x 71 cm
17 Warnings
2024
HD-Video auf LED wall
7 min 15 sec, Farbe / Sound
CGI Animation: Rustan Söderling
Character Animation: Dara Najmabadi
Sound: Steffen Martin
18 Brother_08.JPEG
2023
Acrylgel, Tinte auf Papier, Sperrholz
38 x 32.5 x 4.3 cm
19 Hustler_23.JPEG
2024
Marmor
48 x 64 x 91 cm
1–6, 8–10, 12–13, 16–17, 19:
Courtesy des Künstlers, Gladstone Gallery, New York, David Kordansky Gallery, Los Angeles und Rodeo Gallery, London/Piräus
7, 11, 14, 15, 18:
Courtesy des Künstlers und Gladstone Gallery, New York