18.02–21.07.2024

Kuratiert von
Tobia Bezzola
Taisse Grandi Venturi

In Kooperation mit
Kunsthaus Zürich
Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv

Er war Maler, Grafiker, Redaktor, Filmemacher, Verleger und Galerist, aber vor allem Fotograf, Fotoreporter und Künstlerinnen und Künstlerporträtfotograf – insbesondere von seinem lebenslangen Freund Alberto Giacometti. Dank seiner langjährigen Tätigkeit schrieb Ernst Scheidegger (1923–2016) ein Kapitel der Fotografiegeschichte.

Viele seiner Porträts, insbesondere von Giacometti, sind ikonisch geworden. Die Ausstellung zeigt aber auch und erstmals überhaupt eine grosse Auswahl an unveröffentlichten Bildern aus seinem fotografischen Frühwerk aus den Jahren 1945 bis 1955. Danach entstanden, ab Mitte der 1950er Jahre und meist als Auftragsarbeiten, die berühmten Künstlerporträts. Von Joan Miró über Salvador Dalí und Max Ernst bis hin zu Marc Chagall zeigt die Ausstellung Künstlerinnen und Künstler, die Auge in Auge mit dem Fotografen gestanden sind.

Die Porträts stehen im freien Dialog mit ausgewählten Gemälden und Skulpturen aus bedeutenden öffentlichen und privaten Sammlungen, grossenteils aus dem Kunsthaus Zürich. Mit ihren Werken gestalten die Protagonistinnen und Protagonisten der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts die Ausstellung mit, die einer vielschichtigen Künstlerfigur gewidmet ist, die über mehrere Jahre Teil ihres kreativen Abenteuers war.

Als Resultat einer umfassenden Neuauswertung von Ernst Scheideggers fotografischem Nachlass anlässlich seines hundertsten Geburtstags stellt Auge in Auge nicht nur eine Hommage an einen der bedeutendsten Schweizer Fotografen des 20. Jahrhunderts dar, sondern bietet gleichzeitig einen intimen Einblick in das künstlerische und kulturelle Milieu der Avantgarden des letzten Jahrhunderts.

 

Ernst Scheidegger und Peter Münger
Alberto Giacometti
1964–1966
Film, 28 min


Dank Werner Bischof wird Ernst Scheidegger nicht nur Mitglied der renommierten Agentur Magnum, sondern entdeckt auch seine Leidenschaft fürs Kino. Der verfrühte Tod seines Freundes und Mentors verwehrt diesem jegliche Möglichkeit, sich in der Filmkunst zu versuchen, Scheidegger wiederum realisierte zahlreiche Dokumentarfilme.

In seinem bekanntesten Werk wird sein wichtigstes Modell zum Protagonisten: Der zwischen 1964 und 1966 gedrehte Dokumentarfilm Alberto Giacometti beginnt mit dem Künstler, der uns in sein Atelier vor seine Staffelei führt, und endet vor dem Modelliertisch. Der Rhythmus spiegelt Giacomettis künstlerische Praxis und kreativen Prozess wider, der sich nicht in einem einzelnen Werk erschöpft, sondern in ständigem, endlosen Werden begriffen ist, wie die Stadt Paris, die vielen Aufnahmen als Hintergrund dient.

Der unbekannte Scheidegger

Scharfe Kontraste, verfremdende Perspektiven und eine nonchalante Fokussierung: Ernst Scheideggers frühe Fotografien sind das eher melancholische, verträumte Ergebnis der Streifzüge eines jungen Flaneurs, der versucht, alles zu verlernen, was ihm in seinen Lehrjahren als Fotograf beigebracht wurde.

Von Belgrad nach Montecassino und vom Verzascatal bis Paris: Zwischen zwei Reportagereisen wird die Strasse zum idealen Ort, um das Leben zu verewigen, das nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wieder draussen stattfindet, an Volksfesten und Sportveranstaltungen, unter Zirkuszelten oder Jahrmarktslichtern. Sein fotografisches Auge richtet sich oft auf den Menschen: Die so entstehenden Bilder sind poetisch, ernsthaft und persönlich und zeigen stets ein starkes soziales Engagement.

Scheidegger zeigt uns eine Welt, die oft düster erscheint, sobald Licht aufkommt, verfügt sie jedoch über eine ungeheure Strahlkraft: Der Verlauf von Licht und Schatten wird mithilfe einer breiten Palette an Grautönen wiedergegeben, die Tonwerte reichen von tiefem Schwarz bis zu leuchtendem Weiss.

Alberto Giacometti (Borgonovo, 1901 – Chur, 1966)

Ernst Scheidegger lernt Alberto Giacometti 1943 zufällig kennen, als er während seines Militärdiensts in Maloja im Bergell stationiert ist. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren fotografiert er ihn oft in seinen Ateliers in Paris, Stampa und Maloja, und er begleitet sein Leben bis hin zu Giacomettis Beerdigung in Borgonovo, in der Nähe von Stampa, an einem kalten Wintertag im Januar 1966.

Spuren ihrer innigen Freundschaft finden sich in vielen meisterlichen Fotoserien, die inzwischen Klassiker geworden sind. Von den ersten dunklen, impressionistischen Bildern im berühmten Atelier an der Rue Hippolyte-Maindron 46 bis hin zu den späteren Aufnahmen, die ihn bei der Arbeit an La Grande Tête für die Chase Manhattan Plaza in New York zeigen, die Giacometti bis zu seinem Tod beschäftigen sollte, zeugen die Fotografien von einem vertrauensvollen, wertschätzenden Verhältnis.

Ihre Rollen vertauschen sie ein einziges Mal, als Alberto Giacometti in Stampa in vielen Sitzungen über zwei Winter (1958-1959) lang ein Porträt von Ernst Scheidegger malt. Wie es für den Pinselstrich des Künstlers charakteristisch ist, verschwindet alles Zufällige, und der Fotograf bleibt, anders als üblich, still, während er versucht, der intensiven künstlerischen Befragung standzuhalten.

Erstaunlicherweise gibt es bloss ein einziges Foto, das die beiden zusammen zeigt, aufgenommen wurde es an einem nicht näher bestimmten Datum in einem italienischen Zirkus.

Porträts von Künstlerinnen und Künstlern

1949 kommt Ernst Scheidegger in der Ville Lumière an: In diesen produktiven Jahren enden die in den Cafés von Saint-Germain-des-Prés und Montparnasse begonnenen Diskussionen oft in Ateliers. So nimmt eine Gewohnheit des Fotografen ihren Anfang, die später zu einer Arbeit werden sollte. 

Ab der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre werden die Porträts von Künstlerinnen und Künstlern in seiner fotografischen Arbeit immer zahlreicher. Es handelt sich meist um Werke im Auftrag von Zeitschriften wie «Cahiers d’Art», «Verve» oder «Du», die aber ebenfalls für die Kataloge der Pariser Galerie von Aimé Maeght, Bildbände des Arche Verlags und später auch für solche von Scheideggers eigenem Verlag verwendet werden.

Der Erfolg beruht auf der Fähigkeit, diskret, im Schatten des Schaffensprozesses tätig zu sein. Die Künstlerinnen und Künstler werden am Werk, inmitten ihrer Arbeitswerkzeuge fotografiert. Sie spielen mit der Kamera, aber meist, ohne zu posieren, wie Germaine Richier in ihrem Atelier oder František Kupka in der Intimität seiner vier Wände. Hinter gewissen Aufnahmen verbergen sich persönliche Begegnungen, lange Beziehungen und gegenseitige Wertschätzung, hinter vielen ein eher zufälliger und flüchtiger Kontakt. Der unterschiedliche Grad an Intimität und Nähe zu den Porträtierten verleiht jeder Aufnahme ihren individuellen Tonfall und Charakter.

Cuno Amiet
Solothurn, 1868 – Oschwand, 1961

«Cuno Amiet, Alberto Giacomettis Pate, arbeitete in seinem gepflegten Atelier, in dem Perserteppiche lagen. Nur mit Ironie sprach er von der neuen Künstlergeneration, die trotz ihrer Berühmtheit ‹in Höhlen wohne›», erinnert sich Ernst Scheidegger an seine Begegnung mit Cuno Amiet 1960 in seinem Atelier in der Nähe von Bern. Amiet gehört mit Giovanni Segantini und Ferdinand Hodler, allesamt enge Freunde der Familie Giacometti, zu den Pionieren der Schweizer Moderne.

Ernst Morgenthaler
Kleindietwil, 1887 – Zürich, 1962

Zur Malerei fühlte sich Ernst Morgenthaler erst spät berufen: Er ist bereits 27 Jahre alt, als er sich dank eines Onkels zu Cuno Amiet nach Oschwand begibt, wo er bereits nach eineinhalb Jahren die Ölmalerei beherrscht. Nach seinem Umzug nach Zürich in den dreissiger Jahren nimmt Morgenthaler aktiv am kulturellen Leben der Stadt teil und pflegt zahlreiche Freundschaften, unter anderem zu Hermann Hesse, Karl Geiser und Hermann Hubacher. In den sechziger Jahren wird er von Ernst Scheidegger in seinem Zürcher Atelier fotografiert.

Oskar Kokoschka
Pöchlarn, 1886 – Montreux, 1980

1953 lässt sich Oskar Kokoschka, der «wildeste» aller Wiener Expressionisten, in Villeneuve im Kanton Waadt nieder. Während seines langen Aufenthalts in der Schweiz besucht er regelmässig die Druckerei Wolfensberger in Zürich, ein bekannter Treffpunkt und Begegnungsort für zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, wo ihn Scheidegger 1970 fotografiert. Es sind ruhige, von Wohlstand geprägte Jahre: Seine zunehmend auf Anklang stossenden Bilder entfernen sich allmählich von der psychologischen Analyse, um sich mit offenen Räumen, Landschaften und Stadtansichten auseinanderzusetzen. Der für seine frühere Arbeiten typische spiralförmige Pinselstrich bleibt erkennbar.

Max Ernst
Brühl, 1891 – Paris, 1976

Max Ernst war der surrealistische Künstler schlechthin – egal, was Salvador Dalís dazu meinte und trotz aller Streitereien und seines Ausschlusses aus der Gruppe durch André Breton. Nach ihrem Kennenlernen in Paris fotografiert ihn Scheidegger 1974 in Seillans in Südfrankreich, wo der Künstler zu jener Zeit mit seiner letzten Frau, der Malerin Dorothea Tanning, lebt. Einer Anekdote zufolge waren es die Steine, die Ernst im Sommer 1935 während seines Engadinaufenthalts bemalte, die Scheidegger vor die Tür von Alberto Giacomettis Atelier in Maloja führten.

Salvador Dalí
Figueres, 1904 – Figueres, 1989 

Als Ernst Scheidegger Salvador Dalí Mitte der fünfziger Jahre im Auftrag von Arnold Kübler, Chefredaktor der Zeitschrift «Du», fotografiert, ist er bereits ein medialer Star. Der spanische Maler hebt sich auf den spielerisch-ironischen Bildern vor dem Hintergrund seines Ateliers in Portlligat ab. Die Konturen und Formen der abwechslungsreichen Landschaft rund um die Bucht kehren in seinen Gemälden beharrlich wieder. Der Maler beteuerte stets, sich bloss an den Schauplätzen seiner Jugend zuhause zu fühlen, als wäre er durch eine Nabelschnur mit ihnen verbunden.

Joan Miró
Barcelona, 1893 – Palma de Mallorca, 1983

Joan Miró teilt mit Salvador Dalí, den er in den Kreis der Surrealisten einführt, die tiefe Verbundenheit zu Katalonien. Vor allem Mont-roig gehört zu den emotionalen Landschaften des Künstlers: Das kleine Dorf in der Nähe von Tarragona bildet ein ideales Gegengewicht zum erst in Paris und anschliessend in New York erlebten intellektuellen Trubel. Die langen, zurückgezogenen Aufenthalte festigen seine Identität. Nachdem sie sich ein paar Jahre zuvor in Paris kennengelernt haben, fotografiert ihn Scheidegger 1953 auf dem Familiengut.

Marc Chagall
Wizebsk, 1887 – Saint-Paul-de-Vence, 1985

Trotz der kräftigen Farben und märchenhaften Töne liess Marc Chagall viel Selbsterlebtes in seine Werke miteinfliessen, insbesondere seine Situation als Exilierter: Das Fliegen und das damit einhergehende Gefühl von Schwindel, Entwurzelung und Instabilität zählt zu den wiederkehrenden Themen seiner Arbeit. Saint-Paul-de-Vence, wo er sich 1949 niederlässt, stellt die letzte Station eines Lebens dar, das von vielen Ortswechseln geprägt ist. Hier fotografiert ihn Ernst Scheidegger 1955 dank der gemeinsamen Freundschaft mit dem Galeristen Aimé Maeght.

Le Corbusier (Charles-Edouard Jeanneret)
La Chaux-de-Fonds, 1887 – Roquebrune-Cap-Martin, 1965

Chandigarh hinterlässt beim knapp dreissigjährigen Ernst Scheidegger einen bleibenden Eindruck: Ein Jahr später, 1956, fotografiert er Le Corbusier, den Architekten der als «Idealstadt» konzipierten neuen Hauptstadt des Bundesstaats Punjab in seinem Pariser Atelier. Hier verbrachte Le Corbusier die Vormittage mit Malen, bevor er sich in sein berühmtes Studio in der Rue de Sèvres begab. Malerei und Architektur stellen für Le Corbusier zwei komplementäre Seiten eines einzigen künstlerischen Universums dar, wobei erstere als Labor für Formen und primäre Elemente der plastischen Gestaltung diente.

Hans Arp
Strassburg, 1886 – Basel, 1966
Sophie Taeuber-Arp
Davos, 1889 – Zürich, 1943

Wie Le Corbusier kann auch Hans Arp, der sich ab 1944 in Reaktion auf das nationalsozialistische Regime Jean nennen wird, nicht eindeutig der surrealistischen Bewegung zugeordnet werden. Die metamorphischen und biomorphen Formen in seinem Werk sowie die auf Zufall und Automatismus beruhenden Konzepte gehen auf den Dadaismus zurück, eine Bewegung, die er 1916 mit Sophie Taeuber in Zürich mitbegründet. Während sie sich schon bald vom Dadaismus lösen, heiraten Hans und Sophie 1922 in Pura, im Tessin, und machen damit eine Beziehung offiziell, aus der auch vierhändige Werke hervorgehen werden.
Trotz der häufigen Aufenthalte und der engen Verbindung der beiden Künstler zur Schweiz und vor allem auch zu Max Bill, begegnet Scheidegger Arp erst 1949 in der Galerie Maeght in Paris. Von da an fotografiert er ihn zwischen 1953 und 1958 mehrmals in seinem von Taeuber entworfenen Atelier in Meudon.
Taeubers Porträt wiederum, die früh verstarb, ist jenes eines Fehlens: 1958 verewigt Scheidegger ihr leeres Atelier, das von ihrem Mann unverändert gelassen wurde.

František Kupka
Opočno, 1871 — Puteaux, 1957

Als Mitglied von Abstraction-Création gehört František Kupka wie Taeuber-Arp, Arp, Max Bill und Georges Vantongerloo – der die Gruppe 1931 als Gegenbewegung zum Surrealismus gegründet hatte –, zu den Pionieren der Abstraktion. Dass er Teil einer Gruppe ist, stellt für den böhmischen Maler aber freilich eine Ausnahme dar: Seine scheue, zurückgezogene Art tritt auf den Bildern deutlich zutage, die Ernst Scheidegger 1955 in seiner Wohnung im Pariser Vorort Puteaux von ihm machte, wo der Künstler einen Grossteil seines von finanziellen Schwierigkeiten geprägten Lebens verbrachte.

Fernand Léger
Argentan, 1881 – Gif-sur-Yvette, 1955

Ernst Scheidegger lernt Fernand Léger in Aimé Maeghts Galerie in Paris kennen. Der Fotograf hegt eine tiefe Bewunderung für ihn und besucht ihn in den Fünfzigerjahren oft in seinem Atelier in der Rue Notre Dame des Champs. Es sind letzten Lebensjahre des Malers: Diese sind von grossem schöpferischen Eifer und einem erstarkten politischen Bewusstsein geprägt. Der Enthusiasmus für den mechanischen Fortschritt und die Faszination für den «nützlichen, unnützen, schönen Gegenstand» steht mit leuchtenden Farben und klaren Konturen im Mittelpunkt seiner Gemälde.

Georges Vantongerloo
Antwerpen, 1886 – Paris, 1965

Ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen künstlerischen Praxis, verband Max Bill und Georges Vantongerloo neben dem gemeinsamen Bestreben, neue Entwicklungen im Bereich der Abstraktion zu eröffnen, eine langjährige, enge Freundschaft. Und so trifft Ernst Scheidegger in Max Bills Atelier in Zürich zum ersten Mal auf Vantongerloo. In der Folge besucht er ihn immer wieder in seinem Pariser Atelier unweit von jenem von Alberto Giacometti. Es entsteht eine Freundschaft, die bis zum plötzlichen Tod des belgischen Künstlers andauern wird.

Max Bill
Winterthur, 1908 – Berlin, 1994

Max Bill studierte am Bauhaus und war zeitlebens ein Verfechter der Ideen der Avantgarde der Nachkriegszeit, die er aktualisierte und weiterentwickelte, in der Überzeugung, dass Grafik, Design und Architektur als eine essenzielle Tätigkeit ausgeübt werden mussten, um so die Gegenwart zu verbessern, sei es auch nur durch kleine Details wie dem Entwurf eines einfachen Hockers.
Bill gehört zu Ernst Scheideggers wichtigsten künstlerischen Mentoren und auch zu ersten Fotomodellen: Bereits unter seinen frühen Bildern finden sich Aufnahmen, die das kreative Schaffen seines damaligen Lehrers dokumentieren. Die Freundschaft, die zwischen den Bänken der Kunstgewerbeschule Zürich entstand, erwies sich später für beide als wertvoll. Im Laufe der Jahre kreuzen sich ihre beruflichen Wege immer wieder. An Scheideggers Fotografien lassen sich einige wichtige Etappen der künstlerischen Laufbahn Bills ablesen, vom Aufstellen der ersten Version von Kontinuität in Zürich (1947), über die Ausstellung Die gute Form in Basel (1949) und die Vorlesungen in Ulm (1954) bis hin zu seiner Arbeit im Atelier.
Scheidegger hat Max Bill auch einen seiner wichtigsten Filme gewidmet (Max Bill, 1995).

Fritz Glarner
Zürich, 1899 – Locarno, 1972

Scheidegger lernte Fritz Glarner, der einige Jahre jünger als Mondrian war (mit dem er einen regen, freundschaftlichen Austausch pflegte), aber älter als die Generation der Schweizer Konkreten Künstler, über Georges Vantongerloo kennen. Glarner, der damals in New York lebte, verfügte nach wie vor über ein grosses Atelier in Paris, wo er seine Ausbildungsjahre verbracht und im Kontakt mit Avantgarde-Gruppen gestanden hatte. 1966 reist er für die Premiere von Scheideggers Dokumentarfilm Alberto Giacometti eigens nach Zürich. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Glarner im Tessin und er hinterliess dem Kanton eine bedeutende Schenkung von Werken. 

Richard Paul Lohse
Zürich, 1902 – Zürich, 1988

Dem Künstler, Grafiker und Illustrator Lohse und Max Bill ist die politische Dringlichkeit und das Interesse für Musik gemeinsam. Zusammen sind sie die treibende Kraft der goldenen Jahre der Zürcher Schule der Konkreten. Nach dem Dadaismus wird die Stadt in den dreissiger Jahren dank dem Einfluss zahlreicher Künstler, die vor dem Nationalsozialismus fliehen, erneut zu einem fruchtbaren Boden für Avantgardebewegungen: Es sind die Jahre der «Zürcher Konkreten» und der Allianz – Vereinigung moderner Schweizer Künstler, die von Lohse 1937 gegründet wird.
In den 1940er Jahren findet Lohse zur Konkreten Kunst. Seit 1942 befasst er sich in seinen Bildern mit der horizontal-vertikal Gliederung von Farbfeldern modularer und serieller Anordnung. Die Module bestehen aus Quadraten oder rechteckigen Elementen. Seine Gemälde wurden nach mathematischen Regeln gestaltet. Dieses Ordnungsprinzip findet Analogien in den Tontechniken der Zwölftonmusik. 1947–55 gestaltete er die Zeitschrift «Bauen und Wohnen», ab 1958 als Mitredaktor die in Zürich erscheinende «Neue Grafik», wodurch er Bekanntschaft mit Augusto Giacometti, Hans Arp und Le Corbusier machte. Lohse war Teilnehmer der 4. documenta (1968) und der Documenta 7 im Jahr 1982 in Kassel.
1960 fotografiert Ernst Scheidegger den Künstler in seinem Atelier mit seinen rationalen, rigorosen Werken im Hintergrund.

Verena Loewensberg
Zürich, 1912 – Zürich, 1986

Verena Loewensberg, die Dichterseele der Zürcher Schule der Konkreten, wird dank Max Bill, den sie 1935 in der Pariser Entourage von Abstraction-Création kennenlernt, mit Richard Paul Lohse und Camille Graeser in den inneren Kreis der «Zürcher Konkreten» aufgenommen. Loewensberg treibt die Suche nach einer Verbindung zwischen Rationalität und Empfinden, Systematik und Erfindung an. Die ausgestellte Fotografie wurde von Ernst Scheidegger 1971 in Zürich im Atelier der Künstlerin aufgenommen.

Marino Marini
Pistoia, 1901 – Viareggio, 1980

Nach seiner Flucht aus Mailand findet Marino Marini 1943 in Tenero im Tessin Zuflucht. Der Aufenthalt in der Schweiz ist für den Künstler prägend: Die zuvor soliden und kompakten Formen seiner Skulpturen nehmen angespannte, schmerzverzerrte Haltungen ein, die Oberflächen werden rau und zerfurcht. Auf diese Jahre geht die erste Begegnung mit Ernst Scheidegger zurück, der ihn später in seinem Atelier in Mailand fotografiert. 1959 veröffentlicht Scheidegger im Arche Verlag eine Serie an Zeichnungen, die ihm der Künstler geschenkt hatte.

Henry Moore
Castleford, 1898 – Perry Green, 1986

Das Zeichnen, das sich mal in die Skulpturen einfügt, mal damit abwechselt, stellt einen integralen Bestandteil von Henry Moores Werk dar. Zu seinen berühmtesten Skizzen gehören die Shelter Drawings: Entstanden sind sie nach den vom Künstler in unterschiedlichen Londoner U-Bahn-Stationen verbrachten Nächten, die während dem Zweiten Weltkrieg als unterirdische Schutzräume dienten. Ernst Scheidegger hätte daraus gerne eine Publikation gemacht, die jedoch nie zustande kam. 1965 fotografierte er Moore in der Druckerei Wolfensberger.

Germaine Richier
Grans, 1902 – Montpellier, 1959

Wie bei ihren Lehrern Auguste Rodin und Émile-Antoine Bourdelle stand in Germaine Richiers Arbeit stets die menschliche Figur im Mittelpunkt. Scheidegger lernt die französische Bildhauerin in Zürich kennen, wo sie während des Zweiten Weltkriegs mit ihrem ersten Mann, dem Bildhauer Otto Charles Bänninger, lebt.  Die ausgestellten Fotografien wurden 1953 in Paris aufgenommen und dokumentieren die originellsten Schaffensjahre der Künstlerin, in denen tierische, menschliche und pflanzliche Welten zu hybriden Wesen mit sich unablässig wandelnden Körpern und Identitäten verschmelzen.

Eduardo Chillida
San Sebastián, 1924 – San Sebastián, 2002

1948 zieht der baskische Bildhauer Eduardo Chillida nach Paris, wo er drei Jahre lang bleibt. So kommt er mit dem Kunsthändler Aimé Maeght in Kontakt. Daraufhin wird er zum jüngsten, durch seine Galerie repräsentierten Künstler; dort hat Scheidegger mehrmals Gelegenheit, seine Werke zu sehen. Zum ersten Mal begegnen sich die beiden aber 1978 in der Maeght-Stiftung in Saint-Paul-de-Vence. Die daraus hervorgehenden Bilder heben die handwerklichen Aspekte seiner künstlerischen Praxis hervor, die von einem Respekt für die Materialien und deren spezifische symbolische Merkmale gekennzeichnet ist.

Henri Laurens
Paris, 1885 – Paris, 1954

Das Interesse und die Wertschätzung für Henri Laurens Skulpturen verband Ernst Scheidegger und Alberto Giacometti, der den Kubismus 1922 nach seiner Ankunft in Paris entdeckte. Ein paar Jahre später beginnt sich der französische Bildhauer immer mehr von rigorosen Gestalten abzuwenden, hin zu plastischeren, organischeren Formen, die der Realität näherstehen. Zu jener Zeit macht Ernst Scheidegger seine Bekanntschaft und fotografiert ihn 1952, ein paar Jahre vor seinem Tod, in seinem Pariser Atelier.

Biografische Angaben

1923
Ernst Scheidegger wird am 30. November in Rorschach, St. Gallen, geboren.

1940
Lehre als Schaufensterdekorateur bei Jelmoli in Zürich.

1943
Stationierung als Soldat in Maloja (Graubünden), erste Begegnung mit Alberto Giacometti.

1944
Beginn der eigenen Maltätigkeit, seine Werke werden zwischen 1950 und 1981 in mehreren Einzelausstellungen gezeigt.

1945
Besuch der Fachklasse für Fotografie bei Hans Finsler an der Kunstgewerbeschule in Zürich, dort unter anderem Unterricht bei Alfred Willimann und Max Bill.

1946
Meldet sich freiwillig, um beim Wiederaufbau der vom Krieg verwüsteten europäischen Gebiete zu helfen: Dies gibt ihm die Möglichkeit, die nationalen Grenzen zu überschreiten und nach Jugoslawien, in die Niederlande und Tschechoslowakei zu reisen.

1948
Beginnt als Assistent seines Lehrers Max Bill und gleichzeitig im Atelier des Fotografen Werner Bischof zu arbeiten, der ihm erlaubt, die Dunkelkammer zur Entwicklung seiner eigenen Arbeiten zu nutzen.

1949
Die Zeitschrift «Schweizer Illustrierte» veröffentlicht seine erste Reportage aus dem Erziehungsheim von Arese bei Mailand.
Dank Bill zieht er nach Paris, um Wanderausstellungen im Rahmen des Marshall-Plans zu gestalten. In dieser Zeit knüpft er enge Kontakte mit der Pariser Kunstszene, insbesondere mit Georges Vantongerloo, Alberto Giacometti, Joan Miró und Henri Laurens. Zusammenarbeit mit der Galerie Aimé Maeght und den Zeitschriften «Cahiers d’Art» und «XXe Siècle», für die er seine ersten Künstlerporträts anfertigt.

1952
Als freier Fotojournalist bereist er für die Agentur Magnum Photos den Nahen Osten, Indien und die Länder des Fernen Ostens. Seine Fotoreportagen erscheinen in «Paris Match», «Picture Post», «Life», «Collier’s», «Holiday» und «Stern».

1953
Kamera- und Öffentlichkeitsarbeit für verschiedene Filmproduktionen. Fasziniert von der Freiheit, die dieses Ausdrucksmittel zu bieten scheint, plant er zusammen mit Werner Bischof und der Unterstützung von Robert Capa Dokumentarfilme zu drehen.

1956
Nach dem tragischen Tod von Werner Bischof und Robert Capa (1954) wendet er sich vom Fotojournalismus ab und nimmt einen Lehrauftrag für visuelle Gestaltung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm an, die von Max Bill mitbegründet wurde. Dort wird er zwei Jahre lang unterrichten.

1957
Entwicklung des Konzepts und Herausgabe der Buchreihe Horizont über Joan Miró, Hans Arp, Marino Marini und Alberto Giacometti für den Zürcher Arche Verlag.

1958
Das Museum der Stadt Ulm widmet ihm seine erste Einzelausstellung als Fotograf.

1960
Reise nach Chandigarh (Indien), um die Entstehung der neuen Hauptstadt des Bundesstaates Punjab, entworfen von Le Corbusier, fotografisch festzuhalten. Gleichzeitig arbeitet er im Auftrag der Ford Foundation am Aufbau des National Institute of Design in Ahmedabad.
Nachfolger von Gotthard Schuh als Bildredaktor der Wochenendbeilage der «Neuen Zürcher Zeitung», eine Position, die er bis 1981 innehat. In der Beilage erscheinen auch rund 200 eigene Bildreportagen.

1962
Nach dem Entwurf verschiedener Bände für andere Verlage gründet er seinen eigenen Verlag und veröffentlicht einen Text von Jean Genet über Alberto Giacometti und sein Atelier, die erste literarische Hommage an das Studio des Künstlers. Die Veröffentlichung wird durch Scheideggers eigene Fotografien und von Giacometti speziell angefertigte Zeichnungen ergänzt.

1964
Chefgrafiker des Sektors L’art de vivre –  Bilden und gestalten an der Expo 64 in Lausanne.

1966
Beendigung der ersten Version des Dokumentarfilms über Alberto Giacometti, den er ihm ohne Ton einen Tag vor seinem Tod im Kantonsspital Chur zeigen kann.

1971
Eröffnung einer eigenen Galerie in Zürich, die bis 1992 bestehen wird.

1980
Bis 1984 zahlreiche Filmbeiträge für das Schweizer Fernsehen (heute SRF).

1990
Arbeit an einem Film über Max Bill, den er erst einige Jahre später abschliessen wird. Nach dem Dokumentarfilm über die Installation der Skulptur Kontinuität in Frankfurt (1988), ist es der zweite Film, der seinem ehemaligen Lehrer und Mentor gewidmet ist.

1992
Das Kunsthaus Zürich widmet Scheidegger eine umfangreiche Retrospektive, in der alle Aspekte seines Schaffens gewürdigt werden. Aus dem fotografischen Teil entsteht eine Wanderausstellung, die in den Folgejahren mit Unterstützung
von Pro Helvetia Frankreich, Indien und Pakistan erreichen wird.

1997
Gründung des Verlags Scheidegger & Spiess in Zürich mit Heiner Spiess.

2003
Die Stadt Zürich verleiht ihm die Heinrich Wölfflin-Medaille für seine Verdienste im Bereich der Kunstvermittlung sowie weitere Auszeichnungen.

2010
Die Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv wird in Zürich gegründet.

2016
Scheidegger stirbt am 16. Februar
in Zürich.